Brexit

BREXIT

Wie kann Europa durch Reformen verhindern, dass einzelne Mitglieder den Fortschritt behindern oder gar austreten?

Das Problem

Die Probleme für das Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU sind mit der Verabschiedung des Handelspakts im EU-Parlament noch lange nicht vorbei. Nachverhandlungen können auch in Zukunft erforderlich werden. Unabhängig davon zeigt der Brexit beispielhaft die Dringlichkeit für strukturelle Reformen in der EU auf, um zukünftige Austritte zu verhindern. Um die Handlungsfähigkeit in Brüssel zu erhöhen, müssen nationale und europäische Interessen besser in Einklang gebracht werden.

D

er Zielkonflikt zwischen Brüssel und London trat in dem Moment offen zutage, als einer der Partner einseitig auf seine angestammten Rechte und Vorzüge des Binnenmarktes nicht verzichten wollte, ohne dabei gleichzeitig die von den anderen EU-Mitgliedsstaaten üblichen Pflichten weiter zu übernehmen. Andernfalls wäre die Gründung einer Zollunion und der Zugang zum EU-Binnenmarkt unter Beibehaltung der EU-Freizügigkeit sicher einfacher umzusetzen gewesen. Nun bedurfte es komplizierter Regelungen für zukünftige Grenzkontrollen zwischen Irland, Nordirland und Großbritannien. Die Umsetzbarkeit eines solchen Konstrukts dürfte in der Praxis mehr als fraglich sein. Zeit- und kostenaufwendige Grenzkontrollen gehören nun zum Alltag bei Lieferungen zwischen Großbritannien und Europa. Der Konflikt in Nordirland ist zudem neu aufgeflammt. Die eigentlichen negativen Folgen des Brexit werden sehr wahrscheinlich erst nach dem Ende der Coronakrise sichtbar werden.

Welche Lehren ergeben sich für den Fall, dass andere Mitgliedsstaaten ebenfalls einen nationalen Alleingang anstreben sollten? Und welche Alternativen gäbe es, wenn der Brexit in der Zukunft neu verhandelt werden sollte?

Statt über ein weiteres Entgegenkommen der EU zu sprechen oder auf einen harten Brexit zuzusteuern, sollten wir über die alternative Möglichkeit sprechen, wie das Vereinigte Königreich doch Teil der EU bleiben könnte. Dazu müßte statt der Verhandlung über juristische Aspekte die Frage nach gemeinsamen Interessen in den Vordergrund gerückt werden und was jede Seite bereit wäre, hierfür in eine zukünftige „Partnerschaft“ einzubringen bzw. zu akzeptieren.

Die Vision

Futura Fabrica hat hierzu ein Vier-Stufenmodell entwickelt, in dem jeder Staat entsprechend seiner eigenen Möglichkeiten flexibel wählen kann, wie sehr er auf nationale Interessen zugunsten der EU-Integration verzichten will. Konkret kann ein Mitgliedsstaat folgende Rollen einnehmen, aus denen sich – verkürzt dargestellt – unterschiedliche Rechte und Pflichten ergeben:

1.

Visionäre ergreifen Eigeninitiativen zum Wohle der Gemeinschaft und werden dafür von der EU gefördert.

2.

Kernmitglieder beschränken sich auf den Status quo mit den bekannten Rechten und Pflichten.

3.

Bei einer abgestuften Mitgliedschaft gibt ein Land seine Mitsprachemöglichkeiten auf, respektiert aber die grundlegenden rechtlichen Normen der Gemeinschaft. Beiträge an die EU werden nicht gezahlt. Dafür engagiert sich die EU in Infrastruktur- oder Leuchtturmprojekten zur Förderung gemeinsamer politischer Ziele.

4.

Mitgliedsstaaten, die in eine nationale Krise geraten sind, werden als Sonderfall von ausgewählten Pflichten befreit, können aber auf die Unterstützung der Gemeinschaft vertrauen. Auf dieser Stufe finden sich auch Kandidaten, die eine EU-Mitgliedschaft auf Probe suchen. Bei beiden sind die Mitsprachemöglichkeiten eingeschränkt bzw. temporär ausgesetzt.

B

Bezogen auf das Vereinigte Königreich wäre auch in Zukunft eine abgestufte Mitgliedschaft in der EU denkbar. Eine zukünftige Regierung in London könnte mit Brüssel eine Zollunion neu vereinbaren und erhält wie in der Vergangenheit Zugang zum EU-Binnenmarkt.

Dafür müsste das Vereinigte Königreich die europäischen Freizügigkeitsregeln respektieren. Großbritannien müsste keine weiteren Beiträge an die EU zahlen, würde aber dafür jegliches Mitspracherecht verlieren.

Die Umsetzung

Damit verbunden wäre die Verpflichtung zu gemeinsamen Infrastruktur- und Klimaschutzprojekten. All dies wäre mehr als nur eine assoziierte Partnerschaft, weil der Mehrwert und tiefere Sinn einer solchen abgestuften Mitgliedschaft auch für EU-Skeptiker direkt erlebbar wäre.

Gleichzeitig

könnte das abgestufte Mitglied UK statt der bisherigen EU-Beiträge sich auch über alternative Kompensationsmöglichkeiten in die neue Partnerschaft einbringen. Denkbar wären z.B.:

Gemeinsame Klimaschutzmaßnahmen

UK bringt sein Finanz-Know-how für zukünftige Leuchtturmprojekte ein, um ein Gegengewicht zu nicht-europäischen Investment-Playern aufbauen zu können. Dafür verzichtet London darauf, zu einem Steuerparadies zu werden.

Einsatz britischer Soldaten im Rahmen einer Europäischen Armee.

Internationaler Einsatz zum Schutz von Flüchtlingen

A

ll dies sind nur Beispiele für Kompensationen, die nicht mit direkten Transferzahlungen verbunden sind. Die Gewährung eines Zugangs zum europäischen Binnenmarkt an einen Drittstaat muss immer sorgfältig abgewogen werden. Falls zwischen der EU und einem Kandidaten für eine abgestufte Mitgliedstaat lediglich der Abbau von Handelshemmnissen interessant ist, sollte einer normalen Drittstaatenbeziehung der Vorrang gegeben werden.

Um so wichtiger ist es, einer Partnerschaft zwischen London und Brüssel eine sinnvolle Zukunftsperspektive zu geben statt reiner ökonomischer Überlegungen. Ist eine solche Vision gefunden, dann findet sich auch ein Weg, um Zeit für neue Verhandlungen zu schaffen.